Kunst im Internet und in Subnetzen.

Bericht über die ars electronica 1995
Dr.habil. Gottfried Kerscher
Kunsthistorisches Institut
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt
Kerscher@kunst.uni-frankfurt.de
Juli 1995



Vom 20. bis zum 23. Juni 1995 fand in Linz die (9.) Ars Electronica 1995 mit den Schwerpunktthemen Mythos Information und Welcome to the Wired World statt. Die genannten Themen waren gleichzeitig die Titel der zwei international besetzten Symposien, die unter der Moderation von Helga Nowotny und Peter Weibel an den ersten beiden Tagen stattfanden. Der dritte Tag war der Präsentation der Exponate durch die Künstler und/oder Produzenten gewidmet. Am vierten Tag war der Stiftersaal interessierten Schülern vorbehalten (LogIN), die auf 16 Rechnern Erfahrungen mit dem Internet machen konnten. Hauptpunkt der Ars Electronica war, wie in frueheren Jahren, die Ausstellung von Kunstwerken. Laut Ankündigung handelte es sich um 18 Exponate, aufgrund des Ausfalls einiger Projekte und Rechner bzw. der "Fremdbenutzung" von Rechnern, die für die Darstellung bestimmter Exponate vorgesehen waren, konnte man die tatsächliche Anzahl nicht exakt ermitteln. Das Begleitprogramm umfasste ein Wired Cafe, eine Cyber-Oper, einige Performances, Konzerte, Elektronische Galerie und nicht zuletzt Radio- und Fernsehprojekte. Statt summarisch in jeweils wenigen Worten etwas zu den einzelnen "Events" mitzuteilen, möchte ich in Schwerpunkten über den Stand der Kunstproduktion in den elektronischen Medien berichten, zumal die Ars Electronica erstmals umfassend und intensiv einen praktischen Zugang zum elektronischen Netz (Internet, World-Wide-Web [WWW]) bietet und sich ebenfalls erstmals als Festival nahezu ausschließlich der Kunst und Kommunikationstechnologie im digitalen Datennetz widmet.

Spätestens seitdem die Kunst einen veränderten Werkcharakter haben darf und kein sichtbares Relikt seiner selbst mehr aufweisen muß, ist das unaufhaltsame Vordringen von elektronischer Kunst festzustellen. Vorher war alles bloße Technik. Das hat den künstlerische Leiter Peter Weibel bereits vor zehn Jahren dazu veranlaßt, in der Nachfolge der ORF die Ars Electronica als jährliche Veranstaltung mit Festivalcharakter zu etablieren, ihr als Kurator erhalten zu bleiben sowie stets und unermüdlich nach dem gesellschaftlichen Bedingungen, Werten, Veränderungen und Darstellungsarten der elektronischen Medien zu fragen. So hat sich neben der Ausstellung das Symposion zu jeweils einem Schwerpunktthema etabliert. In diesem Jahr waren es zwei Schwerpunkte, aber der Ausstoß an Neuem war leider nicht so groß, wie man sich das erhofft hatte. Die in diesem Jahr sicher brisante Frage, inwiefern Werke der elektronischen Medien und insbesondere des Internet Kunstcharakter aufweisen könnten, wurde nicht thematisiert.

In Zukunft wird sich höchstwahrscheinlich der Charakter des Festivals erneut ändern, denn ab dem Ende der diesjährigen Ars Electronica werden die bisherige (städtische) Betriebsgesellschaft LIVA unter der Leitung von Karl Gerbl und damit auch Peter Weibel als künstlerischer Berater abgelöst. Das Festival geht dann wieder in die Hände des ORF (Hannes Leopoldseder) und die Stadt Linz zurück und wird unter neuer künstlerischer Leitung im Jahr 1996 hoffentlich fertiggestellten Ars Electronica Center residieren. Damit eskalierte ein lange währender Streit um die Festivalpolitik der Ars Electronica, wobei Peter Weibel und Karl Gerbl sichtlich betroffen öffentlich Abschied nahmen und vor allem Peter Weibel das Gespenst der Veränderung an die Wand malte, das sich schon in diesem Jahr durch die Teilnahme des italienischen Sponsors ENEL ankündigte. Tatsächlich war der Bruch durch die anders gearteten Interessen von ORF und Betreibergesellschaft/Weibel bereits duch den Neubau und die Finanzierung des Ars Electronica Centers vorgegeben. In diesem Jahr äußerte es sich darin, daß man auf dem Festival erst nach gezielter Nachfrage vom parallelen "Event" des Prix Ars Electronica (ausgelobt durch die ORF und ausgestellt in der Baustelle des Ars Electronica Centers) erfuhr. Dort stellte ENEL seine kommerziellen Produkte bereits aus und wartete mit Hochglanzprospekten auf. Man darf aller dings die künftige Veränderung nicht allzu negativ sehen, denn Peter Weibel scheint im Moment, wie die Präsentation seiner CD Wagners Wahn deutlich zeigte, ziemlich erschöpft zu sein. Und auch er plazierte sein kommerzielles Produkt als Cyber Oper publikumswirksam und verkaufsfördernd im Abendprogramm. Und was hinreichend bekannt ist, wurde ebenfalls in der örtlichen Presse moniert, nämlich daß Weibel, der bekanntlich auf vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzt, nur selten im Vorfeld der Veranstaltung in Linz zu sehen gewesen sei. Intrige oder nicht - das Festival zeigte auch einige organisatorische Schwä chen, die bei strafferer Organisation zu vermeiden gewesen wären. Im übrigen war auch die Ars Electronica, ungeachtet von Weibels Eigenwerbung gleich am ersten Abend, nicht frei von Präsentationen der Sponsoren. So hat offensichtlich Apple Rechner zur Verfügung gestellt, und folglich gab es eine Apple -Präsentation, übrigens die einzige Veranstaltung, die über Lautsprecher angesagt wurde.

Die Ausstellung war der wichtigste Aspekt der Ars Electonica. Das Brucknerhaus war auf zwei Ebenen mit durchschnittlich 70 bis 80 Rechnern bestückt, wobei ein nicht unerheblicher Teil das Wired Cafe definierte. Dort wurde jedem Festivalbesucher die Gelegenheit gegeben, die Möglichkeiten der Netze auszuprobieren und im Internet zu recherchieren. Prima vista konnte man daher keinen Unterschied zwischen Exponaten und Cafe ausmachen. Das heißt, daß die ausgestellten Werke keine sinnliche Form mehr aufwiesen, die Werke der Kunst in der Vergangenheit oft auszeichnete oder zumindest als solche sinnlich identifizierbar machte. Auch wurden sie ähnlich wie Performances bzw. Ton- und Bildträger erst generierbar, indem man sie aktualisierte oder aufrief. Im Unterschied zu bisherigen Formen einmaliger oder an eine konkrete Aktion gebunder Werke konnten diese Exponate dauernd generiert (aufgerufen) und theoretisch auch auf eine neue Endform hin aktualisiert werden. Das die ganze Nacht geöffnete Wired Cafe, bot also die Möglichkeit, mit dem neuen Medium und dem Internet spielerisch umzugehen, es stellte mithin einen wichtigen Schritt zur Rezeption der elektronischen Werke dar. Das Cafe wurde auch nachts betrieben und angenehm beschallt, so daß viele die einmalige Gelegenheit zum Bleiben nutzten und man auch noch um vier Uhr Probleme hatte, an einen freien Rechner zu kommen. Erfreulicherweise gab es keine technischen Pannen wie Stromausfall, die, wie vor einigen Wochen in Karlsruhe, dazu führten, dass man die Eintrittskarten billiger abgeben mußte, weil nichts mehr zu sehen und zu generieren war (auf der Ars Electronica wurden Eintrittspreise nur für die Abendveranstaltungen und die Symposien erhoben). Jedoch ist nicht der Strom das Wichtigste, sondern das Individuum, das - ob man das bereits interkativ nennen möchte, ist immer noch umstritten - mit den Datenskulpturen arbeitet und daraus etwas macht. Die Generierung des Kunstwerks zu einer "Daten-Skulptur", also einem jeweils neu zu schaffenden Gebilde erfolgt nämlich durch den Betrachter. Dieser stand früher mehr oder weniger hilflos dem Werk gegenüber. Nun ist er oder sein Handeln wesentliches Bestandteil des Werkes. Denn ohne seinen Akt des Erschaffens oder des Generierens ist das Kunstwerk nur virtuell existent, wenn man so will, also nur abstrakt vorhanden und nicht seh- oder erfahrbar.

Bei den Exponaten kann man von Daten-Skulpturen oder im übertragenen Sinne von Daten-Mengen sprechen und meint damit unter Umständen ein virtuell darstellbares Endprodukt. Aber dieses ist wie gesagt unsichtbar, beliebig generierbar und folglich veränderbar. Es existiert, aber es muß erst "aufgerufen" werden, um die Seinsform etwa einer Performance o. ä. zu erhalten. Ein Werk im Sinne eines beständigen Endprodukts existiert aber nicht mehr. Das Produkt kann also als bloße Datenmenge (Zahlen, Worte, Befehle usw.) genauso aktualisiert werden ("byte-Form"), wie es eine im weitesten Sinn bildliche oder sinnliche Form annehmen kann (akustisch, optisch, als Video usw.). Und es kann auf eine neue Form hin generiert werden, sei es, daß diese vom Künstler intendiert ist oder nicht. Ein versierter Programmierer kann jede Limitierung des Künstlers durchbrechen und dem Werk, ausgehend von den vorgegebenen Strukturen des Künstlers, eine neue Endform geben, die mit der Weise, wie der Künstler das Werk zu strukturieren gedachte, nichts mehr gemeinsam hat.

Von der aus kunsthistorischer Perspektive traditionellsten Form, der bildlichen oder einer irgendwie gearteten sinnlichen Darstellung, hat man sich fast völlig verabschiedet. So hat etwa das Projekt Blinds World 1 von Gerd Döben-Henisch (Institut für Neue Medien [INM], Frankfurt) keine optische Schnittstelle. Die "Knowbots" (to know + robot, zum Projekt noch unten) weisen einen reduzierten Körper auf, der hören, sprechen, riechen, schmecken, tasten, gehen, essen, lernen uvm. kann, nicht aber sehen. Blinds World 1 ist also diejenige eines blinden Kindes, das den Weltbezug erst noch lernen muß und des optischen Zugangs zur Welt beraubt ist.

Diese Position markiert deutlich den engen Horizont, der dem technischen Medium immer noch immanent ist. Es war oft zum Verzweifeln: die unbezifferbaren und gigantischen potentiellen Möglichkeiten des Mediums und aller "Versuchsanordnungen" artikulierten sich oft nur als Piepser oder als schlecht aufgelöste Computergraphik, deren akustischer oder optischer Reiz nach zehn Sekunden verflogen war. Erhalten blieben freilich die immensen Rechenleistungen (und Rechnerleistungen) mit ihrer ideellen und intellektuellen Potenz, die viel von der "blinden Welt" wettmachten. Das Verhältnis von intellektueller Potenz und eng gesteckten Rechnerleistungen verdeutlicht das C@C-Projekt von Eva Grubinger (http://www.is.in-berlin.de/CAC/CAC_hall.html). In diesem System, das Computer aided Curating genannt ist und weder genau einer Galerie noch exakt ein Museum darstellt, stellt der Künstler seine Werke im Internet aus. Dort befindet sich auch sein virtuelles Studio mit virtuellen "Werkzeugen". Produktion, Präsentation und Dokumentation von Kunst sind also ins Internet verlegt, und das Medium Internet bietet auch noch an, die Diskussion und die Reaktionen der Medien einzubeziehen. Neu ist eine World Wide Web-Seite, die Business genannt wird. In ihr sind Sponsoren ("Käufer") der digitalen Werke verzeichnet und möglicherweise über ein Hyperlink mit ihren eigenen Web-Seiten verbunden. Eine potentiell riesige Welt des Kultursponsoring und allen entsprechenden Werbeformen (Corporate Identity) tut sich hier auf, denn theoretisch kann ein Industriegigant wie Mercedes vom Kunstwerk, das gesponsort wird, direkt auf die Waffenindustrie des Konzerns verweisen. Das System des Hyperlink (vergleichbar mit einer Fuß note) verweist ohne Umwege durch Anklicken mit der Maus des Rechners auf eine weitere Web-Seite, ungeachtet, ob sich diese in einem anderen Medium oder geographisch weit entfernt befindet.

Wesentliches Argument für die Beschränktheit des C@C ist aber das Studio des Künstlers, der folglich nur einen Internet-Anschluß haben muß, um virtuell produzieren zu können, und die Schnelligkeit des Netzes selbst. Zum ersten: Man stellt dem Künstler, der von anderen Künstlern vorgeschlagen sein muß, eine Reihe von Befehlen vor (ursprüngliche Unix-Befehle, die aber als Texte erscheinen und mit der Maus angeklickt werden können), mittels derer er sein Werk generieren kann. Das Problem dieser Vorgehens- oder Produzierweise liegt auf der Hand: Nur diese vorgegebenen Befehle kann er wirklich ausführen. Um weiteres zu leisten, müßte er selbst programmieren können. Zudem ist die Liste der möglichen Befehle (wahrscheinlich) zu verlockend, um auf sie zu verzichten und selbst bzw. unabhängig von den Vorgaben und ihrer Reihenfolge tätig zu werden, zumal wenig Künstler mit der Komplexität einer Unix-Umgebung und den entsprechenden Befehlssätzen vertraut sein dürften. Die genaue Anzahl der "tools" im "studio" des Künstlers wurde folglich auch nicht auf Anfrage in der Diskussion der Projekte mitgeteilt (die "studios" sind nicht öffentlich zugänglich, und eine Präsentation des Projektes am Stand der Ars Electronica erfolgte tagelang nicht). Die lapidare ausweichende Antwort von Eva Grubinger, der Künstler könne ja gegebenenfalls selbst programmieren, zeigt bereits, wie eingeschränkt die "tools" sein dürften, und der Künstler wird wohl in vielen Fällen erst zum Programmierer umgelernt werden müssen, bevor er im C@C das tun kann, was er eigentlich möchte (hierzu ist zu ergänzen, daß es auch Künstler im INM gibt, die nach ihrer Ausbildung erst noch programmieren lernen - also Informatik studieren -, bevor sie weiter produzieren können). Hier wird die Produktion zur Auswahl aus vorgegebenen Möglichkeiten, und folglich besteht die Gefahr, die Kunstproduktion zu limitieren und zur Versuchsanordnung in eng gesteckten Grenzen zu degenerieren. Kunst als raffiniertes Computerspiel? Zum zweiten: Das Hauptproblem der Kunst im Internet ist die Geschwindigkeit, mit der Werke transportiert und aufgebaut werden können. Schon heute ist das Internet durch das erhebliche Datenaufkommen seiner geschätzten 20 Millionen Benutzer teilweise hoffnungslos überlastet. Aber stärker als das Internet als Abstraktum aller Netze trifft dies die graphische Oberfläche des World Wide Web, in denen diese Produktionen, weil an eine Optik und Zur-Schau-Stellung gebunden, präsentiert werden. Um von der ersten zur letzten Seite des C@C zu gelangen, dürften bei optimaler Hardware-Ausstattung (ab ca. 10000 DM mit erheblicher monatlicher Belastung für die Einrichtung der Verbindung zum Internet) mehrere Tage notwendig sein. Nur nebenbei: Dieses Problem konterkariert und persifliert die Selbstdarstellung des Internet als demokratisches Medium, in dem ein neue gesellschaftliche Wirklichkeit artikuliert sei. Die enge Limitierung des Datendurchsatzes - und das ist das Hauptargument im Hinblick auf die Begrenztheit des Mediums - macht es schier unmöglich, anspruchsvolle optische oder akustische Werke zu generieren, d. h. sie zu produzieren. Auch wenn das versucht wurde (z. B. die bewegten Bilder von Christina Göstl oder die akustischen Werke von Mathias Fuchs), so scheitert die Rezeption dieser Werke nicht selten an der Geduld der Betrachter oder an technischer Limitierung des Netzes bzw. der Hardware; die Übertragung der Daten bricht dann einfach ab. Man muß dabei wissen, daß man, um zum "Werk" vorzudringen, bis zu 10 Seiten erst "durchqueren" oder überwinden muß, wobei die Aufbauzeit der Seiten, die oft graphische Darstellungen enthalten, tagsüber bis zu 5 Minuten in Anspruch nimmt. Die bewegten Bilder (ein drei Sekunden dauerend es "Video") konnte ich auf einem Rechner mit Anschluß an einen universitären Server - also relativ guten Bedinungen - tagsüber nicht aufbauen, auch auf der Ars Electronica war das nicht möglich, obwohl man dank ISDN-Schnittstellen über optimale Bedingungen verfügte. So wurde auch die Betrachtung anderer Werke aus dem C@C-Projekt schnell langweilig, denn die sinnliche Kraft der Bildzeichen (Icons), die ein Werk repräsentierten oder anzeigten (etwa für gesammelte Orgasmen im Orgasmotron-Projekt von Pit Schulz; vgl. für alle hier genannten Künstler: http://www.is.in-berlin.de/cgi-bin/CAC-bin/CAC-index) standen zwar für eine im weitesten Sinn künstlerische Leistung - Werk möchte man hier nicht mehr sagen -, doch war augenscheinlich der limitierende Faktor der Informationsdichte im Internet verantwortlich für die zeichenhafte Reduzierung der optischen Seite des "Werkes".

Blind's World 1 (vgl. hierzu "Knowbotic Interface Project" des Frankfurter Instituts für Neue Medien; http://www.inm.de/kip/kip.html, demnächst soll d as gesamte Projekt im Netz zu rezipieren sein) ist also mehr als eine Versuchsanordnung und mehr als ein philosophisches Experiment. Es stellt auch die Möglichkeiten und die Limitierung der Kunst im Internet dar: sie befindet sich in den Kinderschuhen bzw. im Stadium des Lernens und sie entzieht sich weitgehend der Welt der Optik. Ihr Medium ist das der Analogie. Texte und Icons stellen die digitale Welt dar. So sind auch die Digitalen Städte weitgehend blind oder weisen lediglich eine stark begrenzte Zeichenwelt auf. Ihr Medium ist die Sprache - Kommunikation und Information.

Digital City, eine Netzwerkstadt in Analogie zur realen Stadt Amsterdam (auch dort angesiedelt, "künstlerische" Leitung Geert Lovink, http://www.dds.nl) ist ebenfalls "blind". Ihre Bereiche Administration, Kultur, Museum, Cafe, Post, Bank, Markt usw. sind nur schematisch als Icons auf der ersten Web-Seite dargestellt. Sie existieren nicht reell, sondern nur virtuell. Obwohl die Digitale Stadt Amsterdam nicht demokratisch in dem Sinne organisiert ist, wie es unsere Städte sind (Verwaltung, Senat usw.), werden die Informationsforen, die Selbstverwaltung, die Informationspolitik, die &UOuml;ffentlichkeitsstruktur und nicht zuletzt der jeweilige kulturelle Anteil in ihr - also Museen, Galerien, Festivals, Ausstellungen, Bibliotheken und vieles mehr - demokratisch genannt, weil sie allen zugänglich ist, für alle das Tor zur breiten Informationsflut des Internet aufbricht und sich im Gegensatz zu fast allen "Niederlassungen" im Internet der Sprache des Volkes bedient. Das kann man von den anderen vergleichbaren Städten nicht sagen, obwohl Ansätze dafür vorhanden sind (z. B. Internationale Stadt Berlin: http://www.is.in-berlin.de, vorwiegend englische Texte, einiges in Deutsch; vgl auch das Telepolis-Projekt im November 1995 in Luxemburg: http://www.lrz-münchen.de/MLM/telepolis oder Link Everything Online, München: http://www.leo.org). Freilich ist umstritten, ob es sich im Falle der Internationalen Städte um Kunstwerke handelt, doch ist die Verquickung von Kunst und städtischem Leben allen Projekten immanent; darüberhinaus wird Stellung zur Welt genommen, nicht nur nach Moholy-Nagy wichtigstes Indiz für Kunst: "Die Funktion der Kunst ist die eines Seismographen für die Beziehungen zwischen dem Individuum und der Welt, eine intuitive Wiederherstellung der Balance zwischen den emotionalen, intellektüllen und sozialen Seiten des individuellen menschlichen Daseines." Diese Städte sind schon wegen ihrer Informationsdichte und der Schnelligkeit, in der Informationen verbreitet werden, demokratische Institutionen. Das zeigte sich an einigen politischen Aktionen der Digitalen Stadt Amsterdam, die auf herkömmlich-demokratischem Weg nicht hätten erreicht werden können. Der Anteil an Kunst und Kunstproduktion bzw. an Information über Kunst (auch Museen, Bücher, Ausstellungsrezensionen, Berichte usw.) ist im übrigen in den Digitalen Städten überdurchschnittlich, und so könnten auch Kunsthistoriker sich mit Kunst in den Digitalen Städten langsam vertraut machen.

In manchen Fällen kamen Kunstprodukte denn auch ziemlich nahe an kunsthistorische Fragestellungen heran. Das Projekt transImagine: Die mediale Pumpstation von Ingrid Burgbacher-Krupka hat sich zur Aufgabe gemacht, Beuys Plastische Theorie deutlich zu machen. Ein Multimediaschauspiel mit Bildern, gesprochenen und geschriebenen Zitaten und Stellungnahmen wird durch Einzelbilder, Bildsequenzen und Videos ergänzt. Obwohl sich das Projekt nicht als Erklärung oder Interpretation in kunsthistorischem Sinne versteht, sondern eine formal und künstlerisch eigenständige Stellungnahme zu Beuys darstellt, ist der Informationswert auch für den Kunsthistoriker sehr hoch. An diesem Projekt zeigte sich, wie Kunst und/oder Information im Netz im Idealfall aussehen könnten. Gegenüber dem Buch hat das Projekt nicht nur den Vorteil, auch bewegte Bilder mitzuliefern (Gesprochenes könnte durch Schrift ersetzt werden), sondern durch die Hyperlink-Organisation alle beliebigen Querverbindungen zu ermöglichen. Das ist im übrigen auch eine Besonderheit der elektronischen Medien und Werke. Sie sind bereits auf die Hyperlink-Struktur angelegt, während unsere Fuß noten nur einen zumeist sekundären Verweis darstellen. Die Hyperlink-Ebenen nehmen aber immer aufeinander Bezug, so daß auch ein Bild durch ein Link mit einem Text verbunden werden kann. So kommentieren Texte Bilder oder Bilder andere Bilder, Kommentare nehmen zu Zitaten Stellung, oder das gesprochene Wort bzw. ein sogenanntes Soundfile "kommentiert" Texte und Bilder zugleich. Obwohl man die Informationen, entsprechend Beuys' Wunsch der Veröffentlichung und Zugänglichmachung allen Wissens, in schon einem Jahr allen unentgeltlich zur Verfügung stellen möchte, scheint mir die Präsentation im Internet beim derzeitigen Stand der Dinge technisch nicht realistisch zu sein.

Das größ te Problem der elektronischen Medien und Kunstwerke ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Es zeigt sich in vielen Fällen, daß ein hoher theoretischer oder ideeller Anspruch einer höchst bescheidenen Wirklichkeit und Realisierung gegenübersteht. Diese muß freilich nicht, wie bei den Werken oben berichtet, nur technisch bestehen. So steht etwa beim Projekt Between the Words von Agnes Hegedüs (vgl. Katalog der ae S. 248f), das ähnlich bereits in Karlsruhe auf der Multimediale ausgestellt wurde, ein hoch komplexer gedanklicher Inhalt einer nicht gerade berauschenden optischen Umsetzung gegenüber. Das zeigte sich auch in der geringen bzw. zeitlich äuß erst kurzen Rezeption des Werkes. Auch der Ansatz von Fileroom (http://fileroom.aaup.uk.edu) wollte nicht recht einleuchten. Freilich sind Publikumsreaktionen kein ausschliesslicher Maß stab für Qualität oder gar für die Existenz oder Nicht-Existenz eines Kunstwerkes, doch scheint mir auch Crossings von Stacey Spiegel wenig mehr als eine billige Computersimulation eines virtuellen Fluges durch banale Landschaften (der Aufbau war übrig ens in Karlsruhe besser, wenngleich das auch nichts am Ergebnis ändert). Da ist die Industrie schon viel weiter, und die Tatsache, daß auch die Kids diese Werke nicht rezipierten, spricht möglicherweise dafür, daß Crossings für ein (Kunst-) Werk zu wenig Impulse zu geben vermochte und als Computerspiel oder Animation virtueller Realität zu banal war.

Auch eine Adaption des verbotenen, aber überaus beliebten und fast eine Million Mal verkauften Computerspiels "Doom" wurde für die Ars Electronica - freilich in anderen Form - bereitgestellt. In "Doom" kämpfen zwei oder mehr Personen um ihr Leben, zu ihrer Verteidigung haben sie so appetitliche Waffen wie Kettensägen. Das Computerspiel, das auch längst im Netz läuft (http://doomgate.cs.buffalo.edu; vgl. auch Die Zeit 22 [26.5.95], S. 78; man benötigt allerdings eine Lizenz des Spiels), wurde wegen seiner menschenverachtenden, gewaltverherrlichenden und reaktionären Tendenzen indiziert. In Arsdoom von Orhan Kipcak (Katalog der ae S. 262-64) findet das Showdown in den Katakomben des Brucknerhauses statt. Die Gejagten und später Getöteten sind Nitsch, Baselitz und Beuys. Soweit ich erinnere, gab es auch noch die Kettensäge, die, wie das gesamte Layout, aus "Doom" übernommen wurde. Meistens erhält man aber neue Waffen, nämlich eine Schrotflinte in Form eines Kreuzes, Pinsel oder Fernbedienung. Die Kunstwerke im virtuellen Brucknerhaus waren meist nur von der Seite zu sehen, schlecht aufgelöst und kaum erkennbar, die "künstlerischen" Aktionen waren auf Zerstörung begrenzt. Das Problem bei einer solchen Adaption zeigte sich an allen vier Tagen der Ausstellung: Arsdoom war von Tag bis Nacht in der ersten Linie von Kindern und Jugendlichen umlagert, die sich herzlich wenig darum scherten, ob und wie sie Künstler oder Nicht-Künstler töteten. Die Hauptsache war, daß es krachte wie in den Computerspielen. Daß die Knarre wie eine Fernbedienung aussah, wurde als Programmierfehler goutiert, und jede vielleicht beabsichtigte ironische Komponente des Werkes wurde dadurch unterlaufen, daß de facto Schüsse abzugeben waren, die jenen des Originals Doom, oder auch anderen Computerspielen, ähnlich waren.

In Analogie zum Verhältnis "Doom" - Arsdoom muß te man bei manchen Exponaten der Ars Electronica befürchten, daß das "Electronica" die "Ars" bei weitem dominierte.

In manchen Fällen wurde die Absicht der Künstler überhaupt nicht deutlich, auch, wenn man den Katalogtext, die Ars Electronica-Informationen oder die Web-Seite dazu studierte. Hier machte sich organisatorische Schlamperei besonders deutlich bemerkbar, sei es, daß sie schon durch die Organisationsform angelegt war, sei es, daß sie durch deren Mißachtung erfolgte. Für das im Vorfeld hochgelobte Projekt Knowbotic Research von KR+cF hatte ich mir für einen Besuch am Freitag um 15 Uhr vorgemerkt, wo die Autoren ihr Projekt erläutern wollten. Als diese nicht da waren, habe ich nacheinander die Projekte besucht um festzustellen, daß die Mehrzahl der Künstler nicht anwesend war. Das ist natürlich bitter, denn Projekte im Netz sind prinzipiell nicht an Orte gebunden, und warum sollte man dann überhaupt noch nach Linz kommen, wenn man dort auf einen freien Rechnerplatz warten muß, um sich die notwenigen Informationen zu holen, die dann gegebenenfalls nicht zur Erklärung der Werke ausreichen? Im übrigen gab es natürlich keine schriftlichen Erläuterungen zu den Werken. Es wurde denn auch im Unterschied dazu deutlich, daß Werke wie Blinds World 1 oder transImagine schon deswegen stärker frequentiert waren, weil fast immer die Autoren oder andere Gesprächspartner zur Verfügung standen.

So muß der im Werk angelegte intellektuelle Anspruch als virtuelle gedankliche Architektur hinter dem Werk vermutet werden, und trotz der zu 90% auf Texten basierenden Internet-Darstellungen und der Texte im Katalog blieb vielfach ein zum Teil erheblicher Rest unklar. Das ist freilich auch so im normalen Galerie- und Museumsbetrieb. Das Problem bleibt aber immer noch die Generierung computergestützter Kunst, neben der ein Buch liegt, das verstehen helfen soll, was ein solches Werk reflektiert, sofern es überhaupt funktioniert. Da war es denn auch erfrischend, wie - umgekehrt - Fritz Rakuschan bei der Vorstellung des Projektes Die Elektronische Galerie (Ramada Hotel, Linz, Werkstadt Graz und Channel 37) nicht nur die vielfach zu beobachtenden ironischen Töne dieser Gattung von Werken anschlug, sondern in einem theoretischen Diskurs, der praktisch auf alle Werke angewendet werden konnte, das Problem der Deutung der Werke persiflierte.

Damit hatte er, wenn auch unbeabsichtigt, auf seine Weise die Art karikiert, wie ein geistiger Überbau (Symposien) über der Veranstaltung lag und eine Vermittlung von diesem theoretischen Diskurs zur Praxis nicht stattfand. Denn die im Symposion diskutierten Möglichkeiten der virtuellen Operation von Verletzten in einem Krieg (vgl. R. M. Satava, Telesurgery, Virtual Reality and the New World Order of Medicine, in: Katalog der ae S. 187-195) fand in keinster Weise eine Analogie zu dem, was drauß en im Foyer vor sich ging und ausgestellt wurde. Und daß viele der (Kunst-) Projekte ihren Ausgangspunkt in technischer Entwicklung bzw. militärischer Forschung haben, müßte nicht eigens Erwähnung in einem Referat finden.

Den Weg aus der Ars Electronica hinaus fanden schließ lich die Töne, die in Horizontal Radio gesammelt und über 24 Stunden im ORF (Rundfunk) gesendet wurden. Die Daten dieser in verschiedenen Radiostationen weltweit produzierten Radiosendungen wurden als sogenannte "sound-files" nach Linz transferiert und dort zur Livesendung koordiniert. Unter der künstlerischen Leitung von Gerfried Stocker bzw. der Künstlergruppe x-space entstand vor Ort, also im ORF-Gebäude, ein technisches Szenario, das ohne technische Kenntnisse nicht zu verstehen war. Die, wie mir berichtet wurde, hervorragende Sendung bedurfte allerdings keiner Erklärung. So griff man in der Ars Electronica 1995 die in den Medien vieldiskutierte Tendenz zum Internet auf. Das war das große Verdienst von Peter Weibel, dies rechtzeitig erkannt zu haben.

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